kuenstlicht | saša stanišić

Termine


Di, 9.6.  20.00 Uhr  Literaturcafé
Haus des Buches,
Gerichtsweg 28
Leipzig




eines der traurigsten dinge | 09.02.2009

am zwischenmenschsein ist der immerfort aufkommende drang, sich in besseres licht zu stellen als andere. diese art assozialsein, diese permanente kosten-nutzen-analyse aller handlungsmöglichkeiten zu eigenen gunsten, die ist nicht idiotisch und kein zeichen von schlechter bildung oder charakter. sie ist ein wohlüberlegtes mittel der selbsterhöhung auf kosten anderer, die wahrscheinlich wie so ziemlich alles aus einem uralten höhlenmensch-machtimpuls kommt, den uns keine industrie und kein geistreichtum je aushebeln wird. wenn dann aber dazu die unfähigkeit zur selbstkritik kommt und ein überaus ungesundes bild von kollegialität, dann ist es vom harmlosen tratsch kein weiter weg zur meinungsmache und von da aus die hetze ganz nah, und wer gehetzt wird, der wird sich auch wehren, das ist so, und böses blut und geschichtseintrag garantiert. ob du ein network bist oder ein lonelywork oder eine regierung, wir sind mit bescheidenheit, die keine koketterie ist, nur selten ausgestattet. im praktiker-baumarkt, wo ich jahre lang fliesen gestapelt habe, verstummten im pausenraum die gespräche, wenn die oder der durch die tür kamen. der pausenhof in meiner schule ein pausenloser tratschkeimraum. an der uni waren es studenten und dozenten gleichermaßen, die ihren grabenkampf im ewigen leistungspositionskrieg geführt haben. im kunstbetrieb betreibt man das als sport, dort meistens noch eine spur fieser, weil die existenzielle angst allen teilnehmern größer vorkommt als jupiter und tokyo zusammen. und weil im grunde viele von sich selbst das meiste halten, weil kriterien, von wem das meiste zu halten ist, nicht von den teilnehmern, sondern von den beobachtern der teilnahme geschaffen werden, und die handeln nach eigenen gesetzmäßigkeiten, die man nur auf jupiter versteht. niemand scheint dagegen gewappnet, ich selbst bin es nicht, die lautersten und geerdesten fallen irgendwann, und die trauer wächst. es ist der kleine hass. der ganz kleine winzige hass zwischen uns, der setzt so winzige stiche, die aber kontinuierlich: im hirn, im ego, im zentrum für innere kränkungen. der ganz kleine hass, und manchmal siehst du ihn bei dir selbst noch bevor er zur tat wird; du siehst und erkennst ihn, du bist krank in dem moment, es ist die winzigste und kürzeste psyschische krankheit der welt, sie ist einige tausend jahre alt und bloß einige augenblicke da, kurz bevor du zum schlag ausholst, der wort ist, zum bessersein, zum wichtigersein, zum darwin-recht-geben, zum vergessen sich an die eigene nase zu fassen, zum anpupsen ohne geruch. die ganze, absolute, vollendete kunst ist es dann, im angesicht dieser ganzen riesigen zuscheissung durch welt und soziale hierarchien und bosse und untergebene und kollegen und mitarbeiter und freunde und hamster, trotz rachegefühl und verwundetes-tier-reflex, despite of your owh wishes and concerns, einfach zu schlucken und die fresse zu halten und die wurst wurscht sein zu lassen. 

wurst

es ist aber ein harter steiniger weg dahin, mein sohn, sagte der präfrontale cortex und warf den zweiten stein, worauf der mund seinem beispiel folgte.

was ist nachzutragen? | 20.12.2008

dass ich es schön fände, wenn die deutsche sprache so etwas wie das englische "well" hätte. vor allem die kleine pause, die man dahinter macht. 

nun, da wäre ja das "nun", nicht? schon. aber "nun" klingt bereits beim zwei mal hintereinander sagen wie ein nashornpaarungsruf, und damit will ja kein mensch freiwillig verwechselt werden, außer vielleicht ein zoologe. außerdem ist das "nun" zu sehr milieu-spezifisch, da es ja bloß von fantasy-rollenspielern benutzt wird, wenn es gilt, ein sprechendes reptil mit dreizack zu mimen, um klarzumachen, dass das sprechende reptil ein unglaublich gelehrtes sprechendes reptil ist, das mehr weiß als alle physiknobelpreisträger und quizproduzenten und das französische feuilleton zusammen. auch professoren der altphilologien benutzen das "nun", eigentlich aus dem gleichen grund wie die sprechenden reptilien mit dreizack. 

"well" ist anders. "well" ist geschmeidig. "well" heißt: ich möchte jetzt etwas erzählen, und ich weiß, dass das, was ich erzählen möchte, vom belang ist, also hören jetzt alle zu. "well" ist selbstbewußtsein und understatement at the same time. "nun" ist bloß überschätzung. wären "nun" und "well" bibliothekarinnen, wäre "nun" die sehr schielende, dicke klugscheißerin und "well" die nur ganz ganz leicht schielende sexbombe, die gern auf leitern steigt. nachts sieht man "nun" am bibliotheksfenster sitzen und wie sie voller wehmut die biografien von marcel proust und bushido parallel liest.

well, nachzutragen ist, dass ich, apropos fantasy-rollenspiel, für die faz ein essay über das online-fantasyspiel "world of warcraft" geschrieben habe. kann man auch im netz lesen und auch die lebhaften diskussionen in der community verfolgen.

well, dass das kluge japanische die 29. sprache sein wird, in die mein roman übersetzt wird.

well, dass ich in polen war, in schottland, in dänemark, in frankreich, in portugal, in den usa und dass ich mir überall gewünscht habe, einen whippet mein eigen zu nennen, der klare dinge will und vor kraft zittert, weil es gut ist, dass dinge vor kraft zittern. und dass ich mir überall gewünscht habe, nicht überall allein alles schön zu finden.

well, dass ich meine kreditkarte in einer flughafenbar in atlanta nach dem bezahlen auf dem tisch liegen gelassen habe, und dass ich mich später an diesen augenblick des vergessens der karte genau erinnern konnte - als ich eine kopie der rechnung in die hand nehme und von der kellnerin einen kompliment bekomme, mich revanchiere, dann aufstehe und gehe. das vergessen ist in dem letzten satz im wort "dann". im fernsehen cnn.

well, dass meine kredikarte von einer irre netten kellnerin vernichtet wurde. jeden tag stelle ich mir eine andere methode der vernichtung vor.

well, dass ich 10 tage nach der vernichtung von etwas, das mir gehört hatte, wieder über atlanta geflogen bin und wieder in der flughafenbar ("last exit") einen kaffee getrunken habe, am gleichen tisch, mit dem rücken zum cnn. die kellnerin war eine andere.

well, dass ich den prix femina nicht bekommen habe und auch weiß, warum nicht.

well, dass der soldat "dafür" von der zeitschrift lire und dem rundfunksender rtl zum besten ausländischen debüt des jahres küriert wurde.

well, dass ich einiges abgeschlossen und vieles gemieden habe.

well, dass ich einiges beschlossen und vieles entschieden habe.

frankreich, preise II | 11.10.2008

und das irre hat eine fortsetzung. bei femina ist die nächste runde erreicht! ich freu mir eine mütze! hier überprüfen.

frankreich, preise | 12.09.2008

fröhlich bin ich einmal mehr von den wegen des soldaten zu berichten, heute aus frankreich, wo er gleich zwei mal auf schönen langen listen halbfinal zwischen ian mcewen und pynchon steht. für die, die französisch in der schule hatten: hier nachlesen.

Jimmys Kopfstimme 10 | 24.08.2008

Sadness

Wonderland    2005 | 24.07.2008

sehr sehenswert: yeondoo jung. wonderland erinnert mich ein wenig an mein "iwontforgetyou"-vorhaben. ich werde fremde vergessene dinge fotografisch inszenieren. mehr dazu bald. den link gibt es schon links.

der vermusizierte soldat | 10.07.2008

the anneberg fund ist eine ein-mann band mit einem album, auf dem nur musikalische interpretationen von relativ aktuellen büchern zu finden sind. auch der soldat findet sich darunter. banjo und klatschende hände.

more praise | 08.07.2008

Schwer, sehr schwer jemals wieder zu überbieten: 

"The offensively gifted Sasa Stanisic, who’s either some kind of freak genius or utterly immersed in modernist and experimental fiction. Or maybe both. There are shades of Joyce here, and Pynchon too, but the whole retains a breathlessly unique, charmingly youthful and deliciously foreign voice. There is some kind of innate divine spark animating this story of childhood memories and the revisions of bloodied maturity… The effect is astonishing. And the literary talent on show in this book is simply world-class."

-Irish Examiner

mein em-link des jahres | 06.07.2008

Straßenfussball! (via fanartisch)

praise | 05.07.2008

Oft werde ich gefragt, ob ich weiß, wie das Buch in anderen Ländern, bei anderen Lesern ankommt. Meistens habe ich keine Ahnung. Bei den englischsprachigen Ausgaben ist es etwas einfacher. Die Sprache spreche ich, der Kontakt war da, in New York, bei den Lesereisen in den USA und in Großbritannien. Auch habe ich (wie immer) versucht, Rezensionen nicht zu lesen, aber manchmal siegt die Neugier und dann erwische ich mich dabei, wie ich, als habe ein egomanisches Alien Besitz von mir ergriffen, doch auf den einen oder anderen Link klicke. Mein amerikanischer Verlag hat jedenfalls fleißig gesammelt, und die Reaktionen findet ihr frisch auf der linken Seite unter "Pressestimmen". Aus Gründen der psychologisch positiv aufgeladenen Verdrängung fehlt dort natürlich der Hinweis auf den handelsüblichen Verriss der sog. Kinderperspektive.

Dann: das Taschenbuch ist da! Mit kräftigeren Farben aber relativ bewährtem Inhalt! 

Auch habe ich endlich Kleinigkeiten auf der Seite hier überarbeitet (Links, Buchinfos...) und die "Audio"-Sektion aktualisiert. Dort nun sind die Infos zum kürzlich erschienenen Hörbuch zu finden.

Ich war in Schweden! Hier der Beweis. Und tatsächlich, "Störst blev jublet när Sasa läste högt (på svenska) ur Jonas bok. Stora och Lilla Johanna uppskattade antalet totalcharmade kvinnor i publiken till 100 %" bedeutet: "The largest was jublet when Sasa read high (in Swedish) from the Jonas book. Large and Small Johanna totalcharmade estimated number of women in the audience to 100%." (Danke http://www.stars21.com/translator/swedish_to_english.html)

Fazit heißt immer auch Neuanfang | 09.04.2008

Die letzten zwei Jahren meines Lebens waren für mich ein kleines Leben für sich und "Wie der Soldat das Grammofon repariert" seine metaphorische Geburt. Seit dem Erscheinen des Romans hat sich zwischen dem Gleichbleiben vieler Dinge so viel verändert, wie ich es damals, als ich die ersten kleinen Schreibversuche unternahm, niemals, in hundert Jahren nicht, für möglich gehalten hätte, und so dass auch das Gleichbleibende den Änderungen nicht widerstehen konnte. Und dann bin ich auch noch in meinem tatsächlichen Leben 30 geworden, wann also, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, dieses kleine Fazit zu ziehen?

Die Geschichte kennt man: Zunächst gab es ein nachträgliches Tagebuch meiner Kindheit, dann gab es die ersten Geschichten, in denen meine Kindheit eine Kindheit wurde, zusammenfügt aus Vermutetem und Zugemutetem, dann gab es Reisen und unzählige Lektürestunden: Jergović, Andrić, Galeano, Marquez, Vonnegut und Eggers, Frisch und Hofmannsthal, dann gab es einen Publikumspreis bei einem Literaturwettbewerb - ich beglich damit meine Schulden, trank in einer seltsamen Schenke in Klagenfurt ein Bier und sagte dem Bartender: "Wissen Sie was, ich geh jetzt nach Hause und schreibe ein Buch."

Ja, und das hab ich dann auch getan, und es gab bald die ersten und nicht die letzten Interviews, die ersten der inzwischen fast hundert Lesungen, die ersten und nicht die letzten Besprechungen. Anfangs hielt ich der Neugier stand, irgendwann las ich sie alle und betrank mich fürchterlich. Nach dem Chamisso-Preis habe ich mich nicht betrunken und hatte mit Freunden und Eltern und Verwandten einen der schönsten Abende seit je. Die haben alle gefragt, was denn los sei. Und ich habe immer gesagt: So viel Glück gehabt, so viel Glück gehabt. Was aber für Deutschland fertig und abgefrühstückt ist, das köchelt erst woanders und woanders und woanders, 27 mal, 27 Sprachen. Mein Gott.

Ich habe weiter gemacht. Erst Erzählungen geschrieben, dann ein Theaterstück geschrieben, in dem eine Oma Kirschen isst. Wenn ich Glück habe, wird das Stück am Steirischen Herbst aufgeführt. Glück hatte ich bereits mit "Go West", einer Auftragsproduktion für das Schauspielhaus Graz. Meine zweite Theaterarbeit, gleich auf einer großen Bühne, gleich mit einem großem und großartigen Team an Schau- und Puppenspielern und einem Regisseur, der mir gezeigt hat, wie es gehen kann.

Am 7. Mai wird dann der Soldat an der gleichen Spielstätte Premiere haben, allerdings im kleinen Haus. Wenn ich Glück habe, reisen wieder alle an, Freunde, Eltern, Verwandte - und sehen zu, wie sich in Aleksandars Stimme eine neue Stimme mischt, die von Sebastian Reiß. Und nächstes Jahr - das eine große Neuigkeit, die mich vor zwei Tagen erreichte - wird es eine weitere Inszenierung des Soldaten im Theater Freiburg geben.

Dass Aleksandar überhaupt eine hörbare Stimme bekommen hat, ist seit kurzem, Dank Random House Audio (Hörprobe), geschehen. All denjenigen, die nach den fast zweihundert Lesungen zu mir gekommen sind und gefragt haben, ob es den ganzen Kram auch als Hörbuch gibt, weil lesen, das ist nicht so ihr Ding, lieber fahren sie Auto, denen sei ganz undezent der Kaufhinweis gegeben: ja, das Hörbuch gibt es jetzt.

Und die unhörbaren Stimmen sprechen trotzdem weiter. In den netzotizen ist gerade Thomas Pletzinger zu Gast. Die Kolumnen für u_mag schreiben sich wie von selbst (nur im Print nachlesbar), weil ich ständig in Dinge gerate, so merkwürdig, dass sie mir wie diktiert vorkommen. Ich brauche dann nur noch das Dokument zu speichern. Und letztens habe ich 20$ beim Online-Poker gewonnen.

Ich sitze gerade in Langenthal. Langenthal sitzt in der Schweiz, mittig zwischen Bern, Luzern, Zürich und Basel. Langenthal ist nicht besonders groß, das fällt uns, großgewachsenen Menschen, aber vielleicht auch unverhältnismäßig auf. Langenthal ist zum Schreiben schön, weil es so ruhig da sitzt und grast auf seiner Wiese zwischen Bern, Luzern, Zürich und Basel. Gestern bin ich in Langenthal ausgegangen. Mit einem Mädchen. Ach, so ein Quatsch, ich bin mit meinem blöden Laptop ausgegangen und hab bis tief in die Nacht Online-Poker gezockt. Jedenfalls saß ich als letzter Gast mit roten Augen vor meinem Paar Siebener in der Ecke, da kam der Bartender zu mir und meinte, er müsse mich jetzt rausschmeißen. Gut, gab ich zurück, dann geh ich halt nach Hause und schreibe ein Buch.

Ab nächste Woche schreibe ich das Buch weiter in New York. Und treffe Salman Rushdie. Und eine ganze Menge anderer.

Das Buch geht so auf seine Reisen. Ich habe mich längst vom Gedanken gelöst, nicht mitreisen zu wollen oder müssen, wie soll das auch möglich sein bei der Menge an Geschehen, das ihm - uns - immer noch geschieht? Und im Grunde sage ich mir inzwischen: Warum auch? Ist doch grandios! Langenthal! New York! Wales! (Wenns mit dem Visum klappt)! Stockholm! Heute morgen war die schwedische Ausgabe in der Post. Im Titel nichts vom Soldaten, nichts von Grammofonen, sogar das Cover ganz fremd, und doch: alles meins - und Christines. Die Freude war da wie beim ersten Mal Berühren des deutschen Covers damals in Mainz. Ich habe mich mit dem Buch fotografiert, es war fast so ein Gefühl als würden wir ein Foto machen, von einem gemeinsamen Urlaub, ein Schnappschuss auf dem wir beide Lachen, das Buch und ich, auf dem wir auch mal zugeben - Mensch, es geht uns gut.

 

Der Weg zur Einbürgerung 1 - Formulare holen

Ich habe beschlossen, deutscher und Deutscher zu werden. Daraufhin habe ich mich auf mein Fahrrad gesetzt (gekauft in Heidelberg 1996) und bin in die Einbürgerungsbehörde geradelt. In der Einbürgerungsbehörde muss man eine Nummer ziehen. Ich dachte mir, ich versuchs mal ohne, und siehe da, es ging gut.

Die Dame von der Einbürgerungsbehörde war meinem Anliegen gegenüber sofort aufgeschlossen. Ich meinerseits war schnell überzeugt, dass sie sehr kompetent und erfahren ihren Beruf ausübte, und mir mit mancheinem gut gemeinten Ratschlag zur Seite stehen wird. Sie wies mich nämlich sofort darauf hin, dass ich zwar schon seit 15 Jahren in Deutschland bin, aber das noch lange nicht bedeutet, dass ich schon seit 15 Jahren in Deutschland bin.

Ich lachte, klopfte mir auch das eine oder das andere mal auf den Schenkel, froh, dass man sich dem Humor in dieser Branche der Integration nicht gänzlich verwehrt. Sie lachte auch, aber nur, weil ich so ein ansteckendes Lachen mein eigen nenne, und nicht, weil sie spaßte. "Doch, doch", sagte sie nämlich, während ich mir ein Tränchen aus dem Augenwinkel wischte, "Ihre Studienzeiten zählen nicht zu Ihrem gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland."

Das leuchtet einem sofort ein: so ein Student ist ja bloß ein armseliges Nichts, unsichtbar in seinen fünf Quadratmetern, sich von Chips und Computerspielen ernährend - den übersieht man hierzulande bei manch Anderem auch, warum also nicht bei der Einbürgerung?

Weil ich aber während meiner Fahrradfahrt etwas Zeit zum Lesen hatte, wies ich die inzwischen plötzlich noch freundlicher gewordene Beamtin darauf hin, dass laut dem Runderlass des Innenministeriums Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2004 Studienzeiten durchaus angerechnet werden können. "Was ja auch irgendwie logisch ist", fügte ich leiser an, und sah auf meine Fingernägel.

Als habe sie einen solchen Einwurf erwartet, konterte die inzwischen schier gutgelaunte Dame sofort, dieser Erlass gelte nicht für Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen.

"Die Bayern schon wieder!", wollte ich ausrufen, aber das tut man ja nicht, wenn man Deutscher werden möchte, sondern man liebt alle Bundesländer gleich viel und sehr viel. Kleinlaut forderte ich statt dessen "halt eben einmal die Ermessenseinbürgerung, bitte", denn diese schert sich nicht um Studienzeiten, sondern um Lebensunterhalt, Altersvorsorge und wie gut man Freistöße schießt.

"Ja, das muss dann nach Dresden!", rief die gute Dame schon enthusiastisch in Feierlaune, dabei ist Dresden zwar hübsch anzusehen, aber sonst doch eher langsam verschwindend wie die Studenten. Die Anmerkung verkniff ich mir aber, denn man weiß ja nie, ob jemand Verwandte oder gar schöne Kindheitserinnerungen in Dresden zur Verfügung stehen hat.

"Ich bin Schriftsteller!", rief ich wiederum, weil ich mir dachte, ich nutze ihre blendende Laune (sie warf inzwischen mädchenhaft lustige Insider-Blicke zu ihrer Kollegin, die man nur versteht, wenn man ein Einbürgerungsbehördler ist), um langsam den "Öffentliches-Interesse-Diskurs" zu eröffnen (Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann, Sie bekommen bald einen Brief von mir oder ist Ihnen E-Mail lieber?)

"Ja, ja", winkte die lustige Dame ab und händigte mir den zwölfseitigen Antrag. Mit heller Stimme, immer wieder von einem Lacher unterbrochen, machte sie mich mit jedem einzelnen Punkt auf den zwölf Seiten bekannt. Ich möchte hier gar nicht näher darauf eingehen, bloß kurz zusammenfassen: die wollen alles wissen, einfach alles. Außer das Passbild, das muss - noch - nicht biometrisch sein.

Ich verabschiedete mich sehr herzlich und freue mich schon auf ein nächstes Wiedersehen mit meiner neuen Lieblingssachbearbeiterin, deren Namen ich mir leider nicht gemerkt habe und daher immer auf irgendwelche unlustigen Umschreibungen wie "lustige Dame" ausweichen muss. Überhaupt werde ich von allen nächsten Wiedersehen mit ihr und dem ganzen Prozess der Einbürgerung in meinem Fall ("So einen Fall hatten wir bisher nicht") hier berichten. Ich ahne, dass es noch einiges Denkwürdige ergeben wird, und wenn das Denkwürdige dann tatsächlich zu irgendeiner Debatte beitragen kann, dann super.

Morgen setze ich mich jedenfalls erstmal schön hin und schreibe einen "ausführlichen Lebenslauf". Handschriftlich. Ohne Scheiß. Man will nämlich meine Deutschkenntnisse schon mal in puncto Lesbarkeit überprüfen. Wenn das Ganze nicht schon an meiner Sauklaue scheitert ...

Nein, ich bin nicht faul oder krank, ich bin bloß ausgelagert zu den

 

Netznotizen.

Neue Termine rechts.

Das rumänische, sehr schöne Cover

Worüber ich lachen kann, 29.10. 2007

Über: One thing PC users can do that Mac users can't.

Adelbert-von-Chamisso-Preis, 12.10.2007

"Wie der Soldat das Grammofon repariert" bekommt den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2008, worüber ich mich sehr freue. Ich empfehle auch die Bücher des Förderpreisträgers Michael Stavarič, allen voran "Europa - eine Litanei". Lasst uns das ebenfalls ausgezeichnete "Der Körper meines Bruders" von Léda Forgó miteinander lesen, ich kannte es noch nicht.

Weiter notiert wird bis zum Herbst in den Randnotizen und bis ins nächste Jahr in den Netznotizen, wo ich Gedichte schreibe. (Dank an den Steirischen Herbst und an die niedersächsischen Literaturbüros).

Die Termine und Aktuelles rund um das Buch, z.B. dass mit China gerade die 22. Auslandslizenz hinzugekommen ist, können weiterhin hier eingesehen werden, und gelegentlich schreibe ich auch, wo ich bin, z.B heute in New York City.

Football 29.09.2007

Heute haben die Hawkeyes in Iowa City gespielt. Alle trugen gelb-schwarz, alle, ich kam mir vor wie in Dortmund, nur dass ich mir nicht so vorkam, weil ich ja wußte, wo ich war. Das Spiel begann um 11h. Um 8h begann das Saufen. Alle trugen gelb-schwarz und liefen zum Stadion und dann um das Stadion, manche im Uhrzeigersinn, manche gegen diesen Sinn. Siebzigtausend Leute passen hinein, weitere zwanzigtausend blieben draußen und lagen da, im schönen Gras und unter der schönen Sonne, und kotzten und redeten. In Iowa City leben dreißigtausend Leute, wenn man mich mitzählt. Man male sich aus. Die Fangesänge klangen ziemlich mies, auch weil es nur circa zwei verschiedene gab und alle schon zu besoffen waren, um ernstzunehmend mitzusingen. Das war wiederum Dortmund sehr ähnlich. Jungs hatten weniger an als Mädchen, aber dasselbe. Während des Spiels konnten im Stadtzentrum folgende Personengruppen (meistens in Einzahl) gesichtet werden: Ausländer, Lesben, Hippies, lesbische Hippieausländer, Wahnsinnige, Schriftsteller, Vietnam-Veteranen im Rollstuhl und ohne Behindertenausweis. Die Hawkeyes verloren sehr hoch. Die neunzigtausend Leute hinkten zurück in die Stadt, wo ich schon auf sie wartete. Ich trug gelb und auf der Brust einen schwarzen Falken. Heute Morgen hatte ich ein Tor in einem Spiel geschossen, in dem man den Ball wirklich mit dem Foot spielt. Jetzt aber ist es an der Zeit die intellektuelle Last des Europäerseins abzuwerfen und sich unkritisch schwarz und gelb die Wangen von Janet bemalen zu lassen, die sich immer wieder hinsetzen muss, weil sie stehend nichts mehr kann.

Krakow, 13.5.2007

Ich habe gerade einen Berufsfindungstest gemacht, und ich habe mich nicht beschönigt und habe auch nicht anderswie gemogelt. In einer ersten Vorstellung, mit welchen sozialen Kompetenzen ich ausgestattet sei, was ich von chemischen Stoffen und Kunststoffen halte und wie sehr ich das Aussehen von Zahlen liebe, kam heraus, ich solle unbedingt Lehrer werden. Allerdings verriet mir der Berufsfindungstest nicht das Fach, also runzelte ich die Stirn und stellte mir mich ein wenig anders vor. Zum Beispiel liebte ich Zeichnen ein wenig mehr als vorher. Dieses Mal lautete die Antwort auf alle meine Selbstein und -überschätzungen: Kartograph. Zufrieden schloss ich die Augen und atmete erst aus dann ein. Das mache ich manchmal so.

Gegenstand der Vereinbarung, 12.5.2007

Anarchisches Potential. Sozialer Tourismus.

Eine eigene Stromfirma. Einstellen. Aufreiben. Rituale. So ist das.

Hundertstelsekunden sind für mich unwesentlich.

Der Möglichkeitenzauberer, 7.5.2007

Möglicher Weise in Venasque, möglicher Weise in Paris. Möglicher Weise in Leipzig. Möglicher Weise in München. Möglicher Weise in Berlin. Möglicher Weise in Hamburg mit einer Dauerkarte für den HSV. Möglicher Weise in Zürich. Möglicher Weise in Portugal mit dem Blick nach Westen. Möglicher Weise in Bewegung. Möglicher Weise mit Börek an einem Nachmittag zum Frühstück. Möglicher Weise Südbaden. Möglicher Weise funktionieren. Möglicher Weise entwerfen. Möglicher Weise weniger reden und mehr machen.

Sicher ist das.

Und dass es eine Bühnenfassung des Soldaten geben wird.

Ich habe einige weiße Haare mehr als am Anfang des Jahres. Wie werden Haare weiß? Wachsen sie schon los aus dem Kopf weiß? Weißen sie allmählich von braun zu silber?

Wahrscheinlicher Weise bleibe ich ein Leben lang Ortbetrüger.

Paul Fattaruso: "Isabellas Liebe zum Flügelhorn", 12.3.2007

Wenn ein Buch so beginnt, dass ein Lastwagen voller Hühner in eine Tankstelle rast, dann hat das Buch kaum eine Wahl, als sehr gut zu werden, zumal der Protagonist (Iple) bei dem Knall taub wird (durchgeknallt vielleicht auch ein wenig) und daraufhin beschließt in die Antarktis zu reisen.

Wenn ein Buch Dinosaurier ernst nimmt, dann hat das Buch kaum eine Wahl, als sehr gut zu werden, zumal der Dinosaurier mit Haut und Muskeln und Kopf und all diesen Dingen (anstatt nur mit fossilem Fußabdruck in irgendeinem blöden Lavasteindings) gefunden wird und besondere Hubschrauber kommen, "um den Dinosaurier in einem riesigen Eiswürfel abzutransportieren".

Wenn man sich bei einem Buch ständig vor Lachen biegt (und mal ehrlich: welches Buch vermag das schon wirklich: uns kaputtlachen zu lassen?) und in einem überfüllten ICE den unbedingten Drang verspürt (und diesem Drang tatsächlich nachgeht, worauf leicht peinliche Stille entstehen wird), den Sitznachbarn die folgende Passage vorzulesen:

"Im Iglu-Dorf fror (Tina) die Tiere einfach draußen in der Kälte ein. Sie ließ ein Meerschweinchen in einer offenen Schuhschachtel vor der Tür stehen. Die Augen der Tiere, die sie im Iglu-Dorf einfror, leuchteten am Ende ganz anständig. Sie hatte nie etwas Größeres als einen Gorilla eingefroren. Sie sagte dem Ex-Präsidenten, dass sie nicht wisse, ob sie bei dem Dinosaurier Erfolg haben werde. Der Ex-Präsident besorgte ihr einen Elefanten zum Üben, und der Elefant taute prächtig auf.",

dann kann man den Tag für sich vergessen (so wie Iple mit seiner Erinnerung zu kämpfen hat) und ihn Paul Fattarusos Buch schenken.

Wenn ein Autor seinen Stoff so elegant an der Grenze zum Surrealen führt, dann bin ich als Leser immer erst sehr skeptisch. "Isabellas Liebe zum Flügelhorn " hat aber meine Skepsis sehr schnell beseitigt, denn das Surreale geschieht bei Fattaruso nie mit dem einfachen Gestus des Fantastischen, sondern mit starker Verwurzelung in der Wirklichkeit, dazu mit Charme, Witz und den pfiffigsten perspektivischen und sprachlichen Einfällen.

Wenn ein Buch ins Jenseits und in die Vorvergangenheit (noch vor den Dinosauriern) führt, dann hat das Buch kaum eine Wahl, als sehr gut zu werden, zumal in dieser ältesten aller Vergangenheiten (wieder) Menschen leben. Die haben alles außer Ingwerbrause und Auberginenparmesan. (Nein, diese Passage habe ich den ICE-Menschen nicht vorgelesen. Ich wollte, musste aber schnell aussteigen). Das Bizarre erzählt uns hier immer etwas, es hat eine Bedeutung und eine Tragweite, die schnell die (trotzdem äußerst unterhaltsame) Ebene der schrägen Charaktere und ihrer schrägen Unterhaltungen und Unternehmungen verläßt (mein Favorit: Der Ex-Präsident träumt davon, mit der ersten Frau im All zu tanzen und tauft daraufhin ein Stadion auf den Namen "Harry").

Wenn ein Buch also auf eine hochhumorvolle, schrägschräge, unkonventionell strukturierte Art solche Themen wie Zeit/ Vergangenheit/ Gedächtnis/ Erinnerung/ Erinnerungsarbeit, dann Sterblichkeit/ Unsterblickeit/ SterblichkeitDannAufgetautheit, dann Verantwortung/ Wissenschaft/ Amerikanische Präsidenten anpackt und nicht nur fein verpackt, dann hat das Buch kaum eine Wahl, als ein wirklich gutes Buch zu werden.

Wenn der Protagonist 28 Brüder hat, und diese allesamt Vollidioten sind, dann hat der Protagonist gar keine Wahl, als gar kein Vollidiot zu werden.

Das Buch endet wie die meisten guten Bücher: mit dem Tod. Aber es ist so, dass der Tod aus eigenem Willen geschieht ("denn aus anderen Gründen stirbt hier niemand" - was irgendwie auch schön ist). Und nach den letzten, dann doch auch sehr rührenden Seiten, steigt man in den nächsten ICE um, und beginnt noch einmal zu lesen, nicht, weil man dann dem Sitznachbar damit angeben möchte, haha, das Buch lese ich heute zum zweiten Mal, sondern, weil man nach dem ersten Lesen das Teleskop und das Mikrospkop zu Ende gebaut hat, mit denen man nun, beim zweiten Lesen, alle feinen Galaxien erforschen kann, die Paul Fattaruso mit diesem grandiosen kleinen großen Buch für uns kartografiert hat.

5. Deutscher Hörbuchpreis, 08.01.2007

Die erste schöne Meldung des schönen neuen Jahres - eine Erfolgsmeldung! Die Hörspielfassung meines Romans wurde gerade in der Kategorie "BESTE FIKTION" für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert! Der Preis wird am 18. März 2007 zum fünften Mal im Rahmen der lit.COLOGNE in Köln verliehen.

Hier kann man Genaueres nachlesen, und hier kann man sich von der Juryentscheidung selbst überzeugen!

Frohes Neues!

Werl, 15.12.2006

Werl liegt bei Unna. Unna liegt bei Hamm. Hamm liegt bei Dortmund. Alles cirka.

Am menschenleeren Bahnhof von Werl steige ich vom Bahnsteig auf die Schienen und möchte mir das Walzzeichen einprägen. Das hat etwas mit meinem Aberglauben zu tun, menschenleere Bahnhöfe betreffend. Kaum bin ich unten, sagt jemand: "Was machen sie denn da unten?"

Also doch nicht menschenleer, denke ich, und sage zu dem Bahnhofsbeamten, "sind Sie ein Bahnhofsbeamter?"

"Sowas", sagt sie, "gibt es ja praktisch nicht."

"Ich", sage ich, "wollte mir das Walzzeichen anschauen."

"Soso", sagt sie, und knackt eine Marone auf, "sammeln Sie etwa ganz kleine Züge?"

"Sie", frage ich, "meinen Spielzeugeisenbahnen?"

"Ganz kleine Züge sind das", sagt sie mit fester Stimme, und ich antworte:

"Sie erinnern mich an jemanden."

Das "Hotel Maifeld" in Werl ist ein Sport- und Tagungshotel. In einem der zahlreichen Tagungssäle feiert Familie Römfeld eine Feier. Es ist nach Mitternacht und die Gäste haben die Krawattenknoten gelöst, sofern sie eine Krawatte besaßen, und Jäckchen ausgezogen, sofern sie ein Jäckchen trugen, es läuft "It's raining men" auf Deutsch. Ich mische mich unauffällig unter die Familie Römfeld, sage hier und da nichts, hier und da "Hallo", hier und da: "Klingt ja wie Rumsfeld". "Wir sind ja ein Familienbetrieb", stößt daraufhin eine junge Frau mit mir an, aber ich verzeihe ihr das sofort, da "It's raining men" doch sehr laut ist. Es wird "Diesel" getrunken, auch ich mische Bier mit meinem Cola und ziehe mein Jäckchen aus, sage "Auf Abbruch, Handel, Walzen, Erdbau und Transporte!" Der jungen Frau verrate ich, auch mal Strähnchen gehabt zu haben.

Am nächsten Morgen ist der Bahnhof von Werl proppenvoll. Ich fürchte mich sehr vor der gutgelaunten Schlange am Fahrkartenautomaten, aber siehe da, es sind die Römfelds! Einer winkt mir zu, "Robert", ruft er, "hast es doch gschafft!"

Hab ich, und zwar ist es: THYSSEN 87 S 54 =

Kindheit, Rainer Maria Rilke

 

Es wäre gut viel nachzudenken,
um von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheits-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen – und warum?

Noch mahnt es uns: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll

wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.

Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden

in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.

Esslingen, 23.11.2006

Das Muster der Regionalzugsitze hat sich innen auf meine Augenlider gebrannt. Wenn ich die Augen schließe - zwischen Esslingen und Memmingen etwa, auf Höhe Geislingen etwa - kann ich dunkelblaue Quadrate vor blauem Grund zählen, sie durch Konzentration am Flimmern hindern.

Alle schwäbeln, Schaffner, Lehrer, blonde Jungs, dunkelblaue Quadrate vor blauem Grund. Mein Mantel schwäbelt. Mein Spätzle sowieso. Regionalzüge voll Sympathie habe ich für die Schwaben und ihr Dialekt! Wäre ich Fähigkeitenzauberer, gäbe ich den Dialekten die Fähigkeit, zu küssen. Wie küsste Friesisch? Schmatzte Bayrisch? Röche Sächsisch nach Bärlauch?

Württemberger jedenfalls haben sich mal die Zähne an Esslingen ausgebissen.

In der Esslinger Waldorfschule baue ich meine Vorurteile gegenüber den Waldorfschulen ab und sehe Walldorfschülern bei Eurythmie zu. Weiche Sohlen schleifen zu Beethovenüber den Boden. Ich muss an Kinderhaben denken.

Ein Anruf aus Bremen zerstreut das Dunkelblau-in-blau vor meinem inneren Auge, dabei hatten die Quadrate gerade eurythmisch umeinander zu schweben begonnen, am Apparat ist ein Herzlicher Glückwunsch. Er gratuliert mir zum Bremer Literaturförderpreis und mein Dankeschön antwortet ihm schwäbisch.

Küsste Kölsch viel mit der Zunge? Wahrscheinlich. Hessisch, wäre es feucht? Möglicherweise würde Berlinerisch beißen mit so ganz winzigen Zähnen. Das kitzelte.

Der Esslinger Obdachlose hustet heiser, in der Waldorfschule kann man Brot backen, ich schließe die Augen und hole mir meine Quadrate her, der Zug hält in Memmingen.

Unterwegs, 09.11 - 12.11.1006

In Frankfurt steigt eine junge Frau in den Zug, blaß und schön. Sie setzt sich auf einen der freien Sitze, ich lese Benjamin Kunkel, und da dieser nicht besonders spannend ist, jedenfalls nicht so sehr wie junge Frauen, blaß und schön, lese ich mehr sie, das aber heimlich, so grandios heimlich, dass sie - meines Voyeurismus unbewusst, an sich riecht, die Nase, blaß und schön, in ihren Pullover tunkt, dann auch an der Hose riecht und jeweils das Gesicht verzieht. Hat sie die Nacht durchgefeiert oder nur beim Asiaten gegessen, was man ja bekanntlich am besten in der Kleidung macht, in der man sonst die Wohnung streicht?

Mir gegenüber sitzen Mutter und Kind. Draußen der Bahnhof, das Kind denkt aber nicht an Bahnhöfe, das Kind denkt an Tiere, das Kind will einmal Tierärztin werden und verkrebste Hamster einschläfern, es fragt seine Mutter, Mama, warum sind Tiere so wie sie sind? Das sei, antwortet Mutter, aber eine ganz einfache Frage, die Antwort wisse das Kind doch sicher auch selbst.

Das Kind denkt nach.

Die Frau, die blaße, schöne, kommt von der Toilette zurück, sie hat sich umgezogen und trägt das Haar anders, blondes, dichtes Haar.

Ich lerne einen Oberstleutnant kennen.

Ich lerne einen ehemaligen Botschafter kennen.

Ich lerne den Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie kennen.

Ich lerne, dass Tiere so sind, wie sie sind, weil, Mama, der liebe Gott das so will. Richtig, sagt Mutter, und die Qualität der Wolken ist ein starker Regen.

Graz, 26.10.2006

Feiertag in Österreich, gut, dass ich heute vor hatte, alles zu erledigen, was sich so angestaut hatte, alles einzukaufen, was zum Überleben notwendig wurde, österreichisches Mobiltelefon, Wintermantel, Winterstiefel, diese Waschtablette für den Geschirrspüler (ja, ich weiß ...), Fernglas, Trikot des GAK, Benjamin Kunkels Buch, Restaurantführer für Graz, Klebezettelchen für Warnhinweise an mich selbst.

Stempeloptik: George W. Bush mit Mikimaus-Ohren an einer Hauswand.

Junge Kunstmenschen (Film, Fotografie) sitzen im Café. Männer tragen Tropfenbrillen, Frauen auch. Frauen haben Frisuren mit Pony und hinten lang, Männer Dreibisviertagebärte und graue T-Shirts ohne Logo, Frauen bunte Kapuzenpullis. Vielleicht kann man in einem Katalog für junge Kunstmenschen gleich ganze Sets solcher Frisuren, Bärte, Kapuzenpullis und der Art wie die Zigarette zu rauchen ist, bestellen. Junge Kunstmenschen tragen ihre Austrahlung eines 70er Jahre Sofas, auf dem oft gesessen wurde, nicht ohne stolz mit sich, und stolz macht jeden noch so Besessenen schön. Eine nimmt die Brille ab und fährt sich über die Augen.

Überblauer Himmel.

Mein Traumberuf: Straßen- und Plätzenamengeber. Klingeltonweg. Bettlerplatz. Tropfenbrillengasse. Sackgasse. Dreigroschenallee. Psychiaterbesuchstraße. Stolpersteinweg.

Im Café am "Mehlplatz" (Toastbrotgässchen, Straße des 13. Croissants, Österreichischer Feiertag Platz ...) - greifen plötzlich mehrere Familien mit Kleinkindern an. Für Kleinkinder ist jeder Tag ein österreichischer Feiertag, und so wie die heute schreien, verlieren wir wieder Gesangstalente. Ich werde Ruhe anderswo finden, spaziere durch das Kunsthaus und sehe in einem Katalog meinen Namen und überall im Katalog um meinen Namen herum junge Kunstmenschen (Installation, Performance). Aah, schreie ich da vor mich in aller Stille hin, denn auf meinem Foto neben meinem Namen trage ich ein graues T-Shirt ohne Logo und kratze mich im Dreibisviertagebart.

Ulm, 19.10.2006

Alles, nicht nichts dem Zufall überlassen, heute, nehme ich mir vor, also nicht wie sonst, aber ich irre mich ja auch ständig, stelle mir folgende Frage:

"Wie sehr vertraust du deinem Zufall?"

Ich lande erst in einer Sackgasse, folge dann zweien älteren Pelzmäntel in die Post und schicke von dort eine Postkarte an mich nach Leipzig. Ich schreibe darauf:

"Lieber Saša,
ich schreibe dir aus Ulm. Ulm hat ein Museum der Brotkultur. Das fand ich so fantastisch, dass ich mir umgehend Brötchen gekauft habe. Vom Museum der Brotkultur führt eine Straße weg, die heißt: "Hinter dem Brot". Im Hotel habe ich gestern vor dem Schlafengehen eine große Fliege im Klo eingesperrt, und als ich heute morgen aufgewacht bin und schlaftrunken so etwas wie einen Duschversuch unternahm, fand ich die Fliege noch nicht tot aber bald tot vor, zwischen Kloschüssel und Duschkabine. Ich gehe jetzt die Brötchen an Vögel verfüttern.
Grüße an alle.
Dein Saša"

Ich verfüttere in einem Park (längst nicht mehr zufällig unterwegs) vier Brötchen an Vögel, es fliegen aber keine Vögel herbei, wie soll man das jetzt nennen: ich zerfetze das Brot für Vögel, die davon nichts mitbekommen?

Ich laufe noch einmal die Gasse "Hinter dem Brot" auf und ab, und kann das alles nicht mehr fassen.

Am Bahnhof komme ich eine viertel Stunde nach der Abfahrtszeit meines Zuges an, wissend, der ist eh zu spät. Der Schweinehund hat dann natürlich 45 Minuten Verspätung, das ist Absicht. Ich kaufe mir drei Brötchen. Dann später noch eines. Ich erzähle der Bäckereifachkraft von dem Brotmuseum. Sie hält mich für wahnsinnig. Die Verspätung des Zuges rutscht mir nach oben in den Kopf. Ich muss mich hinsetzen und kann den Kopf, wegen der 45 Minuten schweren Verspätung darin, nicht oben halten.

Tauben flattern an und beobachten meinen Kopf auf meinen Händen. Einmal am Boden, folgen Tauben einer unsichtbaren Blaupause absoluter Bewegung, halten nicht mehr ruhig, komme, was wolle.

Frankfurt, 2. Oktober

Ich habe Hunger und verlasse das Hotel, in dem man die Suppe mit der Rente meiner bosnischen Großmutter bezahlen könnte, worauf der Kellner über das mickrige Trinkgeld seufzen würde, um etwas mit Reis als Beilage zu essen. Ich laufe im Quadrat und im Uhrzeigersinn und treffe, nach vier Ecken, mein Hotel wieder und bestelle eine Ingwer-Orangen-Suppe.

Das Beruhigende ist die Wiederholung. Ich wickele meine zukünftigen Antworten in folgende Sätze ein:

"Den Streß kann man sich auch einreden."

"Nein, also enttäuscht bin ich wirklich nicht, denn das allein übertrifft schon meine höchsten Erwartungen"

"Es ist natürlich eine Riesensache für mich! Eine Auszeichnung für das, was ich mit größter Glücksempfindung tue: schreiben - bedeutet eine Auszeichnung für mein Glück."

Wann ist genau richtig viel Zucker auf dem Milchkaffeeschaum?

Während der Suppe (okay) lausche ich einer Unterhaltung am Nebentisch:

"Ich bin", sagt die Fotografin, "Fotografin, und muss Dinge scharf sehen. Aber irgendwann habe ich", sagt die Fotografin, "Pepperoni-Augen bekommen. Und das geht gar nicht."

Manche Menschen fahren Fahrrad bergauf so als käme Wind und wiege sich unter ihnen ihr Schiff.

Graz, 29. September

T.C.Boyle ist gelegentlich ¸bergenau. Das st–rt mein Lesevergn¸gen. Das so ausgeh”ngt Recherchierte. Das Unungef”hre.

Eine Kreuzung in Graz, ich laufe alle vier Richtungen ab, bis die Straßen den Namen wechseln. Ich setze mich in die Straßenbahnen und fahre die Endhaltestellen ab. An jeder Endhaltestelle suche ich in der Nähe einen dieser Orte, an denen man Bier kaufen kann. Ich kaufe Bier und trinke es, wartend auf die Rückfahrt, auf der Endhaltestelle. Ich komme, je weiter der Tag voranschreitet, mit immer mehr Menschen ins Gespräch. Ich bin bald relativ sehr betrunken und gebe die Sache mit dem Bier in Andritz auf.

In Wetzelsdorf schiebt ein großgewachsener Mann einen steinernen Sonnenschirmständer langsam die Straße hinab. Der Mann trägt ein kariertes Hemd. Das dauert alles sehr lang und das Geräusch des Steins auf Asphalt beschäftigt mich und die anderen Wartenden sichtbar. Tiefe Dankbarkeit für Dinge hängt spektakulär in der Luft.

Im Busch - Bienen machen Radau.

Auf dem Hauptplatz eine Parteiveranstaltung der Linken. "Wir laden Sie ein", ruft ein Mann ins schlechte Mikro, "heute ein bisschen gegen Rassismus zu sein!"

Am Hauptbahnhof, wo ich zweimal ende, finde ich beim zweiten Mal ein paar herrenloser Herrenschuhe hinter dem Haltestellenhäuschen. Menschen mit Schuhen laufen an diesen Schuhen ohne Mensch geschäftig vorbei. Eine junge, sehr hübsche Rothaarige stellt sich neben mich und wir betrachten eine Zeit lang gemeinsam das Schuhpaar. Sie späht in mein Notizbuch, während ich hineinschreibe: "Menschen mit Schuhen laufen an diesen Schuhen ohne Mensch geschäftig vorbei." Dann gehen die Rothaarige und ich getrennte Wege, ich: nach Krenngasse/Waltendorf.

Völlig betrunken spreche ich vier Japaner auf einen Fußballstar aus ihrem Land an. Sie kennen ihn und tragen Brillen mit schwarzen Rändern.

Graz, 26. September

In der Bahn (auf dem Weg zu Fritz Katers Stück "Tanzen!") setze ich mich einer älteren Dame gegenüber. Altersflecken und ihre Handgelenke verbunden wie es häufig bei älteren Menschen der Fall ist - ich frage mich dann immer, was der Fall sei.

Zwei Haltestellen schweigen wir, würden das auch die nächsten beiden tun. Es steigt eine sehr vornehm gekleidete, ebenfalls ältere Frau ein und setzt sich zu uns, obwohl ihr sonst die Sitze viele Gelegenheiten geben, ebenfalls zu schweigen. Das möchte die vornehm gekleidete Frau nicht, sie trägt schließlich dunkles Rot, aufwändig verknotetes Haar und einen sehr präzise ausgedachten Blumenstrauß.

Kaum fährt die Bahn wieder, wendet sich die Frau in Dunkelrot an uns, sie sagt, mit dem Blick auf die Blumen in ihrer Hand: "Habe ich für ein Gedichtvortrag bekommen."

"Ja", sagt die Dame mit den Verbänden, "ja, schön sind die."

"Ja", sage ich, "was haben Sie denn vorgetragen?", frage ich.

"Ein humoristisches Gedicht", sagt unsere neue Sitznachbarin und lacht über das ganze Gesicht.

"Ja", lacht auch die Dame mit den Verbänden, "ja, die Blumen passen gut zu Ihrem Kleid."

Ich sitze bei Fritz Katers Stück in der ersten Reihe, ein Fehler. Niemals in diesen Stücken, wo so viel geschrien wird, in der ersten Reihe sitzen. Wo geschrien wird, wird auch herumgespuckt und das alles, Ich verlasse mit einem Bananenfleck auf dem Hemd das Theater und spaziere durch das nächtliche Graz.

Frankfurt (Oder), 20. September

In dem kleinen Garten hinter dem Kleist Museum hat sich eine Schulklasse versammelt, es sind schätzungsweise Zwölfjährige, es scheint, als warteten sie auf den Beginn einer Zeremonie, sie sind gut angezogen und nervös, spielende Wartende. Jedes Kind hält eine Art Urkunde in der Hand, etwas, jedenfalls, aus festem Papier, plastiniert. Jungen und Mädchen, gut angezogen und nervös, und: still. Ich bleibe stehen, Bewegungen, Gesten, ausladendes Nicken und Kopfschütteln. All dies aber geschieht in einer Stille, die mir unwahrscheinlich erscheint und unangemessen für diese Menge aufgeweckter Kinder. Es ist still und die Gesten sind Buchstaben und Wörter.

Ich bleibe stehen, will nicht starren, starre. Ich habe doch, denke ich, schon so viele Gehörlose gesehen, immer wieder ihre schönen Hände bewundert (man wünscht sich, sie seien schön), aber noch nie kam mir eine Lautlosigkeit so leicht und zugleich so unerwünscht vor.

Eine junge Frau kommt aus dem Museum, auch sie bestens gekleidet, ein dunkelroter Zweiteiler, das Haar hochgesteckt. Einige Kinder bemerken sie, bleiben stehen, tippen den anderen, spielenden oder sich in Gebärdensprache unterhaltenden, an die Schulter.

Und als sie alle aufmerksam zu der jungen Frau blicken, und diese in der Fremdsprache ihrer Hände etwas zu erklären beginnt, schlägt ganz außen, in der hintersten Reihe, ein dunkelhaariger Junge einem anderen mit seiner Urkunde flach auf den Hinterkopf.

Ich zucke vor dem Geräusch zusammen.

München, 16. September

... und was ist mit der Umgebung des Augenblicks und des Ortes, an dem ich, Kopf auf die Hand gestützt, den Lammspieß mit der anderen Hand drehte? Blauer Trainingsanzug, das Haar in der Stirn, fettig glänzende Lammhaut.

... und was ist mit Susanne, meiner ersten Freundin in Deutschland, in Heidelberg? Wir waren 24 Stunden zusammen, ich sprach kein Wort Deutsch, sie kein Englisch, sie brachte mir "Guten Abend" bei und wir gaben uns einen Abschiedskuß.

... und was ist mit einmal nach Paris?

... und was ist mit dem Klassenausflug nach Okrugla? Wessen Ball wurde damals in den Rzav gekickt, wer wagte sich im April in das kalte Wasser, um ihn zu holen, wer gewann das Spiel, schoss ich ein Tor, womit hatte mir Mutter die Brote belegt?

... und was ist mit Emir Kulelija, den ich bewunderte, weil er damals, in der siebten Klasse "Slayer" hörte und "Sepultura", und weil er den Mut hatte, schlecht in der Schule zu sein? Ein Rebell neben mir, dem braven, leisen.

... und was ist mit dem Cover für ein Buch, mein Buch, das ausschließlich aus meinen Erinnerungen bestehen würde, non-fiction? Welchen Anteil an Weiß müsste ich ihm einräumen?

... und was ist mit der Scham für meine Eltern hier in Deutschland? Warum stand ich ihnen damals mehr im Wege, als dass ich half? Ich schämte mich, weil sie damit nicht zurechtkamen, dass man mit ihnen nicht zurechtkam. Ich schämte mich, weil man ihnen, den Gebildeten, keinen passenden Job geben wollte, schämte mich, dass Mutter völlig fertig und in Tränen aufgelöst nach Hause kam, sich ihre aufgequollenen Hände ansah und unter kaltes Wasser hielt, und Vater sich still, ohne Gegenwehr, den Rücken auf dem Bau kaputtschuftete. Ich schämte mich, unternahm aber nichts, kümmerte mich um mich und nur mich. Ich schämte mich für uns alle, welche Unterwürfigkeit wir aus der Angst vor Behörden entwickelten, ich schäme mich auch heute, weil die Unterwürfigkeit bei mir als Impuls immer noch vorhanden ist.

... und was ist mit dem einen langen, roten Haar, das ich vor vielen, vielen Jahren auf meinem Kissen fand, trotz aller offensichtlichen Unwahrscheinlichkeit, dass zu der Zeit ein rotes Haar dort liegen dürfte? Warum habe ich danach so eine unbedingte Ausschau nach Rothaarigen gehalten und mich in eine verliebt?

... und was ist mit der unmöglichen vollkommenen Leichtigkeit des Lebens in Deutschland als Nichtdeutscher? Werde ich in dreißig Jahren vielleicht jegliche Beschwernis verloren haben, auch die des Darübersprechens, diese Litanei über das Persönliche, aber auch über die allgemeinen "Zustände"? Hat es ein Engländer besser? Warum? Was findet man gut am Balkan in mir (und was soll das?), außer der (fälschlichen) Annahme, Zigeuner in schwarzen Anzügen spielten auch zu Kindergeburtstagen in goldene Tubas zum Tanz auf?

... und was ist mit Franc McCourt, der gestern im Literaturhaus München eine sagenhaft amüsante Lesung gab, sich als souveräner Geschichtenerzähler gab, charmant mit müden, kleinen Augen?

... und was ist mit Grönland, so weit weg ist doch nichts mehr?

... und was ist mit meinem Fahrradschloss? Ich halte seinen Schlüssel in meiner Hand jetzt - jetzt lehnt das Fahrrad in Leipzig, 362 km von mir entfernt, an einem Stop-Schild nahe des Bahnhofs. Dort ist also das Schloss, umarmt die Metallstange. Hier bei mir der Schlüssel, dieser Schlüssel öffnet jenes Schloss und kein anderes.

... und was ist mit dem 16. September? Wo war ich in genau DIESER Sekunde vor 7, 14, 21, 28 Jahren, und habe ich mich in der Umgebung von genau DIESEM Augenblick vielleicht etwas gefragt, das von einer so großen Wichtigkeit war, dass bereits die Frage Farbe bekam, Geschmack und Gefühl, dass bereits die Frage also, im Augenblick, da ich sie stellte, für alle Zeiten zu einer Erinnerung wurde?

... und was ist mit Venasque? Mit Lagos? Mit meiner ersten CD (Bob Marley)? Mit dem Lamm an jenem Spieß? Mit allen Lügen, die ich je gelogen habe? Und was ist mit morgen um genau 12.50h?

Leipzig-München, 15. September

Jedes Mal auf der Strecke nach München nehme ich mir zwischen Jena und Saalfeld vor, einmal zwischen Jena und Saalfeld auszusteigen. Aufgabe: diese wahnsinnig schöne Gegend in Grund und Boden wandern. Heute liegt Frühnebel den Feldern zwischen Jena und Saalfeld auf, frisst sich in die bewaldeten Hügel, lässt die Strommasten zu ihrer absoluten Hochform in Strommastigkeit aufspielen (dunkle Pfeiler im dichten Grau, irgendwelche Vögel drauf!).

Thüringer Schokoladenwerk Saalfeld!

"Als Heilgard ihr Leinenhemd über den Kopf zog, kam ein beeindruckender Busen zum Vorschein. Die Beeren ragten mir begehrlich entgegen". (H. von Wieser: "Der Dämonenmeister" [1999], S.16.)

Sogar in den Kleingärten zwischen Jena und Saalfeld wird in sympathischer Ordnung gebeetet.

Weiter neigetechnikt sich der ICE zwischen Saalfeld und Lichtenfels an Farben, Wiederkäuern, Nadelbäumen und einem Werk für handgefertigte edle Pralinen hinauf. Die noch tiefstehende Sonne verlangt nach Naturlyrik, und ich denke: lalalala..., und ich denke: in einer Großstadt bekomme ich wegen Schönheit nie Gänsehaut.

Es ist super, viel mehr Dinge zu mögen, als nicht zu mögen.

Bäche! Mir ist eichendorffig!

Leipzig, Donnerstag, 14. September

Ich lese die Tagebücher des so guten E.T.A. Hoffmann.

Leipzig, Dienstag, 12. September

Clara-Zetkin-Park tut am frühen Morgen so wohl, dass ich den frühen Morgen für mich als Zustand beschließe.

Am Leipziger Hauptbahnhof suche ich einen Geldautomaten. Dann ist er kaputt. Mit zwanzig Euro fahre ich nach Berlin und gleich wieder zurück.

Im Zug neben mir, ein junger Mann mit schlecht ausrasiertem Nacken. Er wird mehrmals angerufen. Sein Satz: "Nein, nein, mich interessiert das nicht, sollen die sich darum kümmern."

Clara-Zetkin-Park tut frühmorgens Mitte September deswegen so wohl, weil er sich sagt: "Ja, ja, mich interessiert das, aber sollen die sich darum kümmern."

Wenn Dinge wirklich gut laufen, wirklich wirklich gut, dann sollte man sichergehen, dass man das bemerkt und genießt.

Leipzig, Montag, 11. September

"Einzelne Plätze haben wir noch", sagt der Ticketverkäufer und ich sage, "okay, ich nehme einen einsamen, bitte." Sneak Preview, alle kennen den Ablauf, ich nicht. Es scheinen sich auch alle zu kennen im Saal, die Stimmung ist ausgelassen, es gibt eine Moderatorin, sie stellt Gewinnfragen, alle können alle beantworten, ich keine, der neben mir ist dreimal der schnellste, wir machen uns einen Spaß daraus, dass er bei der Preisvergabe (T-Shirt, "irgendwas mit dem 11/9", "Über die Hecke"-DVD) trotzdem jedes Mal übersehen wird. Der Film heißt "Brick", ich wache kurz vor Schluß auf und kann noch folgen.

Früher, in Heidelberg, bin ich zum Güterbahnhof spaziert (mit Händen in den Taschen, damit es gut aussieht, falls mir jemand folgt), und habe mir die abgestellten Waggons bedeutungsschwer angeschaut. Das war so was von öde, ich habe das vielleicht insgesamt dreimal gemacht. Das vierte Mal waren die Jungs dabei, wir entdeckten in der Nähe ein Altpapierdepot. Ein Container enthielt relativ aktuelle Zeitschriften. Es gelang uns, diese anzuzünden.

Leipzig, Sonntag, 10. September

Ein 10km-Lauf im Clara-Zetkin-Park. Zufällig bin ich drei Minuten vor Start am Start. Hunderte Läufer, die meisten tragen orangenfarbene Leibchen eines Sponsors. Es gibt eine Rede und Musik. In der Rede geht es um SportCheck oder etwas Ähnliches, es ist jedenfalls ein Sportgeschäft und wurde gerade erweitert und renoviert, dann sind es nur noch zehn Sekunden und alle zählen sie hinunter.

Geräusch der Laufschuhe, die in hunderten an einem vorbeitappen.

"Martin! Go, Martin, go!"

Ich fahre weiter, biege nach links ab, auf einer Parkbank gleich neben der Strecke sitzen zwei alte Frauen und halten Hände. Ich steige ab und schiebe. Sie sind Russinnen, und als ihr Russisch erklingt, weiß ich, verstehe ich, es gab einen Verlust, der Verlust war der Ehemann. Die Hände trennen sich und gestikulieren Trost.

Im Café Weezie erklärt eine junge Frau, die ich als Fotografin kenne, einer Freundin, die fast immer türkis trägt und aussieht, als leiste sie sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit aus Tee und Zwieback und sonst nichts, warum ihr der Papst so plötzlich unsymphatisch geworden sei, habe er sie doch zuvor niemals interessiert, weder er, noch Vatikan, noch Gott, höchstens Kindermißbrauch. Um ihr Argument zu verdeutlichen, vergleicht sie den Papst speziell mit Bernd Eichinger. Dieser würde jede neue Freundin, bevor er sie ganz akzeptiert, auf eine Probe stellen, die irgendetwas Perverses mit Zugucken beinhaltet.

Christoph Simons Schelmenroman "Planet Obrist" hat mich zutiefst beeindruckt und fröhlich gemacht. Er fragt, wie es übrigens die meisten sehr guten Bücher tun, nach Glück.

"Jeder beschissene Augenblick."

Leipzig, Samstag, 9. September II

Ein frisch vermähltes Ehepaar sitzt im Café Weezie. In den karrierten Sesseln am Fenster, einander gegenüber. An der Seite, auf einem kleinen Hocker, sitzt ihr Fahrer. Mütze mit Schirm, Lederhandschuhe. Auf dem Platz vor dem Café parkt ein Oldtimer, schwarz und weiß.

Der Bräutigam trägt einen im Licht zwischen Dunkelrot und Grün schillernden Anzug. Die Braut ist relativ dick und relativ fröhlich.

Am Fenster sitzen sie in karrierten Sesseln, und trinken Milchkaffee.

Leipzig, Samstag, 9. September

"Argentina!" "Argentina!" Ruft ein Junge mit hellem Haar und hellblauem Hemd gedankenverloren gegen das Schaufenster eines Tabakladens. Aus dem Laden tritt wenig sp”ter sein Vater und nimmt ihn an die Hand. Da seufzt der Junge.

Frühstück im "Café Telegraph", wo ich erst vor wenigen Stunden Bier trank mit alten Bekannten und Kathrin Passig, von der ich Folgendes erfuhr:

a) Sie ist eine Autorin-Darstellerin (sie notiert dementsprechend in ein Moleskine) aber auch Ärzte und Astronomen seien Darsteller. Ich möchte nun ergänzen, auch LKW-Fahrer sind Darsteller und natürlich die Praktiker-Fliesenabteilungsleiter, meine Mutter ist eine Mutter-Darstellerin, dieser Tisch ist ein nußbrauner Tisch-Darsteller und Tom Cruise ist ein Darsteller-Darsteller, was ich mir so wie Minus und Minus in Mathe vorstelle, also kommt irgendwie wieder Plus heraus, was entweder bedeuten würde Tom Cruise ist ein Darsteller-Darsteller-Darsteller oder schlicht niemand und nichts.

b) Publikumspreise, über die das Internet abstimmt, gewinnt man, weil man eine riesige Internet-Community hinter sich vereint. Logisch. Stimmt natürlich nicht ganz, man gewinnt sie, weil man ein Internetcommunity-Darsteller ist und weil die Internetcommunity eine Internetcommunity-Darstellerin ist und Darsteller halten eben zusammen. Meinen Publikumspreis habe ich übrigens meiner bosnischen Familien-Darstellerin zu verdanken, alle beiden Onkel-Darsteller und auch meine Tante-Darstellerin, die gar nicht so richtig weiß, was ich eigentlich darstelle, haben mir ihre Stimmen gegeben, dann meine Eltern-Darsteller und meine Cousine-Darstellerin aus dem Darsteller der Stadt Split. Das macht, wenn ich mich nicht verzählt habe, 6 Stimmen.

Die Stimmen im Telegraphen wiegen schon einen Sonntag leicht, wir bereiten uns alle auf morgen vor, wir kreuzen die Tische mit unserer murmelnden Anwesenheit an.

Buchhören

Unser Hörspiel "Wie der Soldat das Grammofon repariert" wurde in dieser Woche auf Radio-Fritz (RBB) vorgestellt. Mit eigenen, wunderschönen Akkordeon-Kompositionen hat Merima Kljuco Wesentliches zum Gelingen der Adaptation beigetragen.

Das Hörspiel wird außerdem als Hörbuch des Monats bei Random House Audio besprochen. Dort finden sich weitergehende Informationen zum Inhalt und zur Macharts des Ganzen.

Nominierung

"Wie der Soldat das Grammofon repariert" wurde zu meiner großen Freude für den Deutschen Buchpreis nominiert! Nachzulesen hier, abzuhören z.B. dort.

Und heute bin ich einen Tag des Lebens mehr in Deutschland, als in Bosnien. Was hat das zu sagen? Was auch immer, anscheinend sage ich es auf Deutsch.

Sorgen

Ich mache mir sorgen über die Transferpolitik des HSV und ein Ministerpräsident weint, das ist trotz allem rührend, man stelle sich vor, Angie weinte. Ich traue es ihr zu.

Aleksandar macht sich Sorgen über die Häuser, und freut sich über so einiges. Die Podcasts - von mir gelesene Kapitel aus dem Roman - sind vollständig bei audibleblog zu hören.

Seit Freitag schwimme ich täglich im Pool in einem amerikanischen Südstaat.

Seit Freitag interessiert mich, abgesehen von der Weltpolitik, vor allem die gemütlichste Liegelage. Ich erzähle meinem Vater von einer Stelle im roman: eine Nebenfigur entführt einen Lastwagen voll mit Medikamenten und kommt dadurch später zu einem netten Reichtum.

Hast du es dir ausgedacht?, fragt mich mein Vater.

Cirka, antworte ich.

Dem N. haben sie, sagt er, von seinem neuen Haus in Bosnien die dachziegel geklaut.

Was?

Ja, über nacht, N. und seine Familie haben im Haus geschlafen.

Wann war das?

Letzte Woche.

Denkst du dir das aus?

Nein, deinem Onkel wollten sie in sarajevo das Radio aus dem Auto klauen.

Und?

Ging nicht, er saþ noch drin, da haben sie sich entschuldigt.

| ©2006 Sasa Stanisic